Fleißig, pünktlich, abgehängt: Kopfnoten kontra Zukunftskompetenzen
Klimawandel, Pandemien, politische Krisen, künstliche Intelligenz: Spätestens seit zwei Jahren ist hierzulande auch den letzten vernunftbegabten Menschen klar, dass es an der Zeit ist, die Zukunft nicht nur abzuwarten, sondern sie proaktiv zu gestalten.
Die Frage ist: Haben wir überhaupt die Fähigkeiten dazu? Welche sind das? Und fördern wir sie oder blockieren wir sie eher?
Schon „vor Corona” hat der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V. in Zusammenarbeit mit McKinsey & Company das Framework „Future Skills 2021“ erstellt und darin transformative Kompetenzen als neue Schlüsselkompetenzen für Unternehmen, Staaten und persönliche Karrieren definiert. Gemeint sind dabei Fähigkeiten, Veränderungen zu gestalten. Im Zentrum stehen Missionsorientierung und Innovationskompetenz, um viele Menschen hinter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen und so neue Kräfte zu entfesseln.
Das ist nun tatsächlich allgemein nicht die größte Stärke der Deutschen. Als Teil der Generation X blicke ich auf über 40 Jahre zurück, in denen ich von Menschen regiert wurde, die selbst in ihren größten Momenten weniger Aufbruchstimmung verbreitet haben als ein Trainerwechsel beim SV Großenlüder.
Aber um Charisma allein soll es hier natürlich nicht gehen. Zu den transformativen Kompetenzen gehören Kreativität, Kommunikation, Konfliktfähigkeit, Selbstorganisation und Selbstlernkompetenz. Und da reden wir dann über Fähigkeiten, die man durchaus erlernen kann. Und die dementsprechend im Zentrum eines modernen Bildungssystems stehen sollten.
Kopfnoten Fleiß, Ordnung, Betragen – alte preußische Tugenden in Sachsen
Ein Symbol dafür, ob und wie das zumindest versucht wird, sind hierzulande die sogenannten Kopfnoten. Es gibt sie zwar nicht mehr überall, und ihr Nutzen selbst wird seit Jahrzehnten heftig diskutiert. Zu Recht! Aber immerhin: Da, wo sie eingesetzt werden, zeigen sie eine Menge über Wertekanon und Kompetenz-Ranking der Regierung. Zum Beispiel in Sachsen.
Im Freistaat erhalten Schüler:innen tatsächlich noch Schulnoten, die sogenannten Kopfnoten, für „Fleiß, Betragen, Mitarbeit und Ordnung”. Abgesehen davon, dass in nicht wenigen Fällen dabei eher die Eltern benotet werden (die „Hausaufgabenbuch-Eltern”) – mit ehrlicher Maloche allein digitalisieren wir noch nicht einmal das Hausaufgabenheft, geschweige denn unsere Behörden, unser Gesundheitssystem, unsere Mobilität.
Bleibt nur der tröstende Gedanke: Wenn es denn mal schiefgeht, erscheinen die Sachsen preußisch pünktlich und mit blitzsauberen Schuhen vor dem Insolvenzrichter und wirken fleißig an der Aufklärung des Sachverhalts mit.
In Preußen selbst sieht es übrigens nicht viel anders aus. In Brandenburg werden Arbeits- und Sozialverhalten, Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt sowie Ausdauer und Belastbarkeit bewertet. Mein erster Gedanke: Machen die da eher Ausflüge oder Gelände-Manöver? Immerhin werden aber auch Verantwortungsbereitschaft, Kooperation- und Teamfähigkeit sowie Konfliktfähigkeit und Toleranz bewertet. Ein Schritt Richtung Zukunftskompetenz, aber weit entfernt von Missionsorientierung und Innovationskompetenz.
Warum fehlen Kreativität, Kommunikation und kritisches Denken auf Zeugnissen und in Leitbildern, und wie sieht das anderswo aus?
Der Blick auf andere Länder
In Finnland zum Beispiel ist Kreativität ein enorm wichtiger Bestandteil des Bildungssystems. Projektarbeit zur Entfaltung kreativer Skills hat hier eine sehr große Bedeutung und kreative Lösungen von Problemen werden als ganz besondere Leistung hervorgehoben. Das ist mir in Deutschland weder in meiner eigenen Schulkarriere noch bei meinen drei Kindern jemals aufgefallen. Im Gegenteil!
Auch Singapur gilt als Land, in dem die Bedeutung von kreativem Denken in der Mathematik und den Naturwissenschaften besonders wertgeschätzt werden. Schüler werden immer wieder ermutigt, alternative Lösungen für komplexe Probleme zu finden und ihre eigenen Ideen zu entwickeln.
Immerhin: Noch befindet sich Deutschland genau zwischen diesen beiden Ländern (einen Platz hinter Singapur, einen Platz vor Finnland) im Global Innovation Index. Ob wir diese Position halten können? Und welche Bedeutung spielen dabei fleißige Sachsen mit der Note 1 in „Betragen”? Das wird die Zukunft zeigen. Ich könnte natürlich jetzt fordern, diese Dinge im Bildungssystem zu ändern. Es fehlt mir allerdings nicht nur allein der Glaube an den bildungspolitischen Willen dazu, es fehlen ja auch die nötigen transformativen Kompetenzen bei den sicher fleißigen und ordentlichen Entscheider:innen.
Mir ist selbstverständlich klar, dass es auch in Sachsen mittlerweile einige Schulen gibt, an denen Kreativität wichtiger ist als Ordnung. Ich greife hier nur auf die persönliche Erfahrung von (und mit) drei Kindern an städtischen Grundschulen und Gymnasien zurück: Ihre Ordnung war maximal in Ordnung, ihr Fleiß eher befriedigend als gut, so die Lehrer. Ihre Kreativität? Keine Ahnung …